B. von Scarpatetti: Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen 2

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Titel
Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Band 2, Abt. III/2: Codices 450–546. Liturgica, Libri precum, deutsche Gebetbücher, Spiritualia, Musikhandschriften, 9. – 16. Jahrhundert


Herausgeber
von Scarpatetti, Beat Matthias; unter Mitarbeit von Philipp Lenz
Erschienen
Wiesbaden 2008: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
LI und 539 S., 12 Abb.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Max Schär

2003 erschien der erste Band der neu katalogisierten Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. Er beschreibt hagiographische, historische und geographische Schriften aus dem 8. bis 18. Jahrhundert. Mit dem neuen Band erfasst der durch seine bereits erschienenen Kataloge bestens bekannte Handschriftenforscher Beat von Scarpatetti die St. Galler Codices 450–546. Der Band wurde angeregt von dem 2003 verstorbenen Stiftsbibliothekar Peter Ochsenbein, der sich selber während 20 Jahren um die mittelalterlichen Gebetsbücher bemüht und verdient gemacht hat. Bei der redaktionellen Bereinigung standen dem Katalogisator Karl Schmuki, René Projer und besonders Philipp Lenz zur Seite, der auch die verschiedenen Register erstellt hat.

Der Katalog beschreibt nebst Martyrologien (Heiligenkalendern), liturgischen Büchern (darunter vier erstklassige Zürcher Chorbücher), Memorialtexten, Regelhandschriften, Texten zur Zeitrechnung, liturgischen wie auch nicht-liturgischen Musikhandschriften sowie anderem mehr vor allem lateinische und deutsche Gebetbücher sowie weitere spirituelle Literatur. Bei den Gebet- und Andachtsbüchern handelt es sich vor allem um Handschriften des späteren Mittelalters, die grossenteils aus Frauenklöstern stammen und vielfach auch von Nonnen geschrieben wurden. Doch auch Handschriften von Laien, also Nicht-Klerikern und allenfalls weiblichen Nicht-Religiosen, werden im neuen Katalog erfasst. Der Anteil der deutschsprachigen Texte ist demgemäss hoch.

Einzelne Codices sind bestens bekannt und wie etwa die Martyrologien des Rabanus Maurus (Codex 457) und Notkers des Dichters (Codex 456) oder die Orgeltabulatur Fridolin Sichers (Codex 530) auch ediert. Die spätmittelalterlichen Frömmigkeitszeugnisse werden von Beat von Scarpatetti grossenteils erstmals ausführlich inventarisiert. Gustav Scherrer, der sich vor allem für die frühmittelalterlichen Codices interessierte, hat sie in seinem 1875 erschienen Katalog (Verzeichniss der Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Halle) oft nur mit kurzen Hinweisen von zwei Zeilen gestreift. Von Scarpatetti beschreibt sie im neu erschienen Band mit minutiöser Genauigkeit, bestimmt sie inhaltlich, paläographisch, kodikologisch und verzeichnet möglichst umfassend die einschlägige Literatur. Scherrer beschrieb beispielsweise auf zwei Seiten (156f.) nicht weniger als 16 Handschriften (Codices 486–502). Von Scarpatetti widmet denselben Handschriften 52 Seiten (125–177).

Zum einen interessiert den Verfasser die jeweilige Schrift als authentisches Produkt einer Person. Er legt deshalb grössten Wert auf die Unterscheidung und Beschreibung der Hände und macht auch einen bisher nicht bemerkten Schreiber, Dromo, namhaft (Codex 455). Zum andern befasst er sich eingehend mit dem Inhalt der Bücher und erfasst jeden einzelnen Text mit seinem Initium. Ein lateinisches und deutsches Initienregister erschliesst den Katalog.

Vor allem die Erforschung der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte wird von dem neuen Band vorangetrieben werden. In den beschriebenen Handschriften spiegelt sich der Übergang von der monastischen zur Laien-Frömmigkeit, auch die zunehmende Bedeutung des persönlichen Gebets und schliesslich die Frömmigkeit der Frauen, vor allem der St. Galler Dominikanerinnen zu St. Katharinen, einem Kloster, das von 1228 während 300 Jahren bis 1528 bestand. Der Band fördert mit den erfassten spirituellen Texten aber weit mehr als nur ein Kapitel der Frömmigkeitsgeschichte. Indem er das aufstrebende Bürgertum in den Städten, die zunehmende Individualisierung des Lebensgefühls und die wachsende Bedeutung der Frauen ins Blickfeld rückt, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Sozial-, Mentalitäts- und Frauengeschichte.

Frauengeschichtlich bedeutsam ist besonders die weibliche Schreibtätigkeit, welcher Simone Mengis in direktem Zusammenhang mit der Neukatalogisierung der St. Galler Handschriftenbestände in ihrer 2005 fertig gestellten Basler Dissertation nachgegangen ist (Schreibende Frauen in der Frühneuzeit. Scriptorium und Bibliothek der Dominikanerinnen von St. Katharina St. Gallen, unveröffentlicht). Die von Frauen geschriebenen Handschriften sind gekennzeichnet durch «wenig Kürzungen, Sorgfalt der Schrift, anschauliche Sprache, Bescheidenheit im Dekor, Genauigkeit, überwiegende Anonymität, Fehlen von jeglichem Prunk und Luxus». Inhaltlich ist bemerkenswert, dass die Identifikation mit Maria so weit geht, dass sie in vielen Texten «faktisch die Stellung einer Frauen-Gottheit innehat» (von Scarpatetti, XXXII). In einzelnen Psalmen wird die Anrufung domine unbedenklich durch domina ersetzt.

Der Katalog beschreibt über zwanzig Handschriften, die Frauen hergestellt haben. Fünf Schreiberinnen sind namentlich bekannt. Alle gehörten der Oberschicht an. Um 1500 geradezu Berufschreiberin im Dominikanerinnenkloster in St. Gallen war die einer Zürcher Konstaffler-Familie entstammende Cordula von Schönau. Sie hat «sechs grössere Handschriften ganz sowie Teile in sechs weiteren geschrieben» (XXXIII). Erstrangige Schreiberinnen waren auch die Dominikanerinnen Regina Sattler und Regula Keller. Ihre Väter waren beide Ratsherren der Stadt St. Gallen. Regula Keller wurde früh «Buchmeisterin» (Bibliothekarin) und rettete in der Zeit der Reformation nicht nur zahlreiche Handschriften, sondern den Konvent, der im Jahr 1607 in Wil – wiederum als Katharinenkloster – bis zum heutigen Tag eine neue Bleibe fand.

Zitierweise:
Max Schär: Rezension zu: Beat Matthias von Scarpatetti unter Mitarbeit von Philipp Lenz, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Band 2, Abt. III/2: Codices 450–546. Liturgica, Libri precum, deutsche Gebetbücher, Spiritualia, Musikhandschriften, 9. – 16. Jahrhundert, Wiesbaden, Harrassowitz, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 307-308.